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Offener Brief an die Bürgermeister von Lahntal und Wetter

Offener Brief an die Bürgermeister von Lahntal und Wetter

Sehr geehrter Herr Bürgermeister Apell,

sehr geehrter Herr Bürgermeister Spanka,

das Vorhaben der Stadtwerke Marburg, im Wollenberg einen Windpark mit sechs jeweils 199,5 m hohen Windkraftanlagen (WKA) zu errichten, und damit innerhalb der Gemarkungsgrenzen Lahntals und Wetters in einem streng geschützten Fauna-Flora-Habitat (FFH-Gebiet) ökonomisch tätig zu werden, haben Sie bislang uneingeschränkt unterstützt – vor Ort gar maßgeblich propagiert und vorangetrieben.

Als Zustimmung interpretieren wir auch Ihr Schweigen darüber, dass die Stadtwerke Marburg ihre anfängliche Zusage brachen, einen Testmast zur Ermittlung der Windhöffigkeit aufzustellen. (1) Hieß es zunächst, keineswegs würden WKA im Wollenberg errichtet, ohne dass vorher Messungen stattgefunden haben, so wurden diese später aus Kostengründen und um schnellstmöglich in den Genuss von Einspeise- und Erzeugersubventionen zu kommen gestrichen. Damit ist der Nachweis der Wirtschaftlichkeit des Windparks nicht gegeben. Ihnen ist bekannt, dass nur Messungen an den einzelnen Standorten selbst, realistische Vorhersagen über die Ertragsfähigkeit von WKA erlauben.

Investitionen in das Projekt sind demzufolge als hoch risikobehaftet anzusehen. Weicht der Windertrag nur wenig nach unten von den spekulativ bewerteten Optimalbedingungen ab, fallen Verluste an. Den kreditgebenden Banken ist das wohlfeil. Sie finden sich aufgrund der fehlenden Insolvenzfähigkeit von Gemeinden auf der sicheren Seite. Leidtragende im Falle einer Fehlspekulation sind zunächst die Kommunen Lahntal und Wetter. Sie müssen die Kredite aus einer Beteiligung von jeweils 1,2 Mio. Euro auch bei anfallenden Verlusten – und einem schon jetzt enormen Verschuldungsstand – bedienen. Leidtragende sind aber auch die Bürger: Sie haben die Verluste über eine Erhöhung kommunaler Abgaben und der Strompreise zu tragen.

Fragen stellen sich ferner hinsichtlich der Bewertung der arten- und naturschutzfachlichen Auswirkungen des Vorhabens. Die Gemeindevertretung Lahntal fasste am 7. Mai 2013 den Beschluss, sich mit 20 Prozent an der zu gründenden „Gemeinschaftswindpark Wollenberg GmbH & Co. KG“ zu beteiligen. (2) Die Stadtverordnetenversammlung Wetter tat das in einem ähnlich lautenden Beschluss am 18. Juni 2013. (3) Bereits am 19. März 2013 hatte diese der Aufstellung des Teilflächennutzungsplans „Windenergienutzung im Bereich Wollenberg“ zugestimmt. (4)

Die von den Stadtwerken Marburg beim Regierungspräsidium Gießen eingereichten Gutachten hingegen tragen folgende Datumsangaben: Artenschutzrechtlicher Fachbeitrag (13. Juni 2013), Tierökologisches Gutachten (14. Juni 2013), Natura 2000 – Verträglichkeitsstudie (14. Juni 2013), Landschaftspflegerischer Begleitplan (18. Juni 2013), Allgemeine Vorprüfung zur Umweltverträglichkeit (12. Juli 2013). Daher sei die Frage erlaubt: Wie haben Sie, aber auch die Abgeordneten in den parlamentarischen Gremien sich über die arten- und naturschutzrechtlichen Aspekte vor Entscheidungsfindung informiert?

War Ihnen zudem folgendes bekannt? Der Leiter des von den Stadtwerken Marburg mit gutachterlicher Tätigkeit beauftragten Ingenieurbüros vertritt die Auffassung – Zitat: „Grundsätzlich kann … in einem NATURA 2000-Gebiet alles geplant werden: Von der Windkraftanlage über das Gewerbegebiet bis hin zum Atomkraftwerk. Der Einzelfall entscheidet über die Zulässigkeit.“ (5) NATURA 2000 ist der Fachterminus für nach der FFH-Richtlinie besonders geschützte Gebiete. Entsprechend positiv fallen die Gutachten für das Vorhaben aus.

Beispielsweise wird nach dem bei der Genehmigungsbehörde eingereichten Tierökologischen Gutachten (14. Juni 2013) der Wollenberg von Zugvögeln umflogen oder allenfalls in unterdurchschnittlicher bis durchschnittlicher Intensität überflogen. Auch wurde auf eine gesonderte Erfassung des Kranichzuges verzichtet, heißt es darin lapidar. Das dem anders ist, können Sie den Bilddokumenten vom 19. und 26. Oktober 2013 auf unserer Webseite entnehmen. (6) Der Kranichzug passiert demnach den Wollenberg entlang des Kamms von Nordost nach Südwest, also im Rotorbereich der geplanten sechs WKA.

Ebenfalls wird gutachterlich die Vereinbarkeit mit den Erhaltungszielen des FFH-Gebiets als vertretbar bewertet. Schwellenwerte für Gebiets- und Populationsverluste von bis zu 15 Prozent für die nach FFH-Richtlinie streng geschützten Arten Bechsteinfledermaus, Großes Mausohr und Mopsfledermaus würden durch WKA im Wollenberg nicht tangiert, lautet eine der Aussagen in der erstellten Natura 2000 – Verträglichkeitsstudie (14. Juni 2013). Wir sehen darin einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht der EU und gegen zahlreiche, einschlägige Urteile des Europäischen Gerichtshofs. Wie Sie wissen, ist das Gegenstand eines von uns initiierten und inzwischen angenommenen Beschwerdeverfahrens der Europäischen Kommission.

Doch allein das Einhalten der Vorgaben des Hessischen Umweltministeriums, für die Errichtung von WKA Tabuzonen mit einem Radius von 5 km zu den Wochenstubenkolonien der Mopsfledermaus einzuhalten, (7) machte einen Windpark im Wollenberg unmöglich. Dennoch soll das Vorhaben nach den Bestrebungen der Stadtwerke Marburg weiter vorangetrieben werden. Bei den Planern zu konstatieren ist offenbar der Concorde-Effekt: Es wurde bereits viel Geld in Planungen, Gutachten und das Genehmigungsverfahren investiert, niemand will einen Fehler zugeben oder gar der Erste sein, der aussteigt. Aufgeben käme einer Kapitulation gleich und so wird an dem irrationalen Ziel festgehalten.

Auch aus diesem Grund erlauben wir uns weiterhin, Fragen zu stellen, die von Ihnen nicht gestellt werden, und Informationen zu geben, die die Öffentlichkeit von Ihnen nicht erhält. Hingewiesen sei etwa auf die Notwendigkeit der Befeuerung von WKA mit Höhen von mehr als 100 m. Von allen Ortsteilen im Umfeld des Wollenbergs wird künftig jede Nacht aus Höhenlagen von 550 bis 620 m ü. NN eine unaufhörliche Disco-Befeuerung zu sehen sein. Hingewiesen sei ebenso auf den durch WKA verursachten Schattenwurf und damit auf mögliche Gesundheitsbeeinträchtigungen. Bis auf wenige Ausnahmen sind alle um den Wollenberg angesiedelten Ortslagen von periodischem Schattenwurf, dem unterschiedlich schnellen Wechsel von Schatten und Licht, betroffen.

Bislang wurden die Anwohner darüber nicht informiert. Debatten zu diesen Themen in den parlamentarischen Gremien Lahntals und Wetters fanden nicht statt. Wie auch? Die dem Regierungspräsidium Gießen als Genehmigungsbehörde vorgelegten Berichte zur Schall- und zur Schattenwurfprognose wurden erst im Juli 2013 erstellt. Da waren die Entscheidungen für das Vorhaben längst gefallen. Gleiches gilt für die Befeuerungsaspekte, wie sie dem Landschaftspflegerischen Begleitplan vom 18. Juni 2013 zu entnehmen sind. Verbunden sind letztere mit einer abenteuerlichen Argumentation. Zu lesen ist dort:

„Trotz deutlich niedrigerer Intensität (100 cd) wirkt sich die Nachtkennzeichnung auf den Betrachter wegen der fehlenden ‚Umgebungswirkung‘ erfahrungsgemäß mit ungleich höherer Dominanz aus als die Tageskennzeichnung. Dennoch kann die Nachtkennzeichnung bei der hier vorzunehmenden Bewertung der Eingriffswirkungen auf das Landschaftsempfinden vernachlässigt werden, weil ihrer Wirkung die weitgehende (Dämmerung) bis vollständige Nichtsichtbarkeit des Baukörpers entgegensteht. Oder mit anderen Worten: Die Eingriffswirkung der nächtliche Befeuerung entfaltet sich erst, wenn die visuelle Eingriffswirkung von Mast und Rotoren aufgrund der Dunkelheit gegen Null geht.“ Sprich: In der Nacht ist es dunkler als draußen – oder: Eine Beeinträchtigung minus eine andere Beeinträchtigung hebt die Beeinträchtigung auf; schließlich ist die Sichtbarkeit der Anlagen in ihrer Gesamtheit nachts nicht gegeben.

Damit sich jeder ein umfassendes Bild machen kann, halten wir es auch nicht für weltfremd darauf zu verweisen, dass die Errichtung von WKA häufig mit einem Fall der Immobilienpreise einhergeht. Schließlich bilden diese einen wichtigen Indikator für die Entwicklungs- und Zukunftsfähigkeit des ländlichen Raumes und unserer Gemeinden. Insbesondere von jüngeren, ansiedlungswilligen Familien ist bekannt, dass sie die Nähe zu WKA-Standorten – auch aufgrund der Unsicherheit gesundheitlicher Auswirkungen – meiden. Wie Sie sich dazu verhalten, ist uns nicht bekannt. Wir fragen aber: Wurden die Käuferinnen und Käufer von Grundstücken in kommunalen Neubaugebieten seit Anfang 2012, als die Planungen zur Umsetzung eines Windparks im Wollenberg begannen, darauf hingewiesen, welche Aussichten sie künftig besitzen?

Außerordentlich beunruhigend nehmen wir auch zur Kenntnis, dass ein früherer Politiker und Mitarbeiter der Firma Juwi sowie deren Vorstandsvorsitzender unter Korruptionsverdacht stehen und bereits ein erstes Urteil wegen Vorteilsannahme und Bestechung erging. (8) Diese Firma ist von den Stadtwerken Marburg als Projektentwickler und technischer Betreiber des geplanten Windparks vorgesehen. Deshalb fragen wir: War Ihnen das bekannt? Ist die Firma Juwi ein adäquater Geschäftspartner der Kommunen Lahntal und Wetter? Und ist sie ein zuverlässiger Ansprechpartner in allen Sicherheitsfragen und in der Gewährleistung der arten- und naturschutzrechtlichen Belange?

Wir handeln nicht nach der Devise: Windkraft ja, aber bitte nicht vor unserer Haustüre. Vielmehr stehen wir für eine Energiewende, die ihren Namen verdient. Sie soll reguliert und in Einklang mit der Bevölkerung, dem Landschaftsbild und den ökologischen und ökonomischen Erfordernissen erfolgen. Spekulierenden Windglücksrittern und -investoren allerdings, seien diese privat oder kommunal motiviert, erteilen wir eine Absage.

Es gilt: Ein Windpark im Wollenberg ist ökologisch und ökonomisch unverantwortlich. Der Hinweis des Hessischen Umweltministeriums auf das Einhalten eines Mindestabstands von 5 km zu Kolonien der Arten mit ungünstigem Erhaltungszustand (Mopsfledermaus) sowie die von der Bundesregierung jüngst beschlossene sinkende Förderung für WKA-Energie unterstreichen das. Der Zeitpunkt zur Umkehr ist jetzt!

Bürgerinitiative „Rettet den Wollenberg“

 

Nachweise:

(1) Bürger fragen nach der Rentabilität, Oberhessische Presse, 19. April 2013.

(2) Protokoll der 16. Gemeindevertretersitzung am 07.05.2013.

(3) Niederschrift über die 18. Sitzung der Stadtverordnetenversammlung am Dienstag, 18. Juni 2013.

(4) Niederschrift über die 16. Sitzung der Stadtverordnetenversammlung am Dienstag, 19. März 2013.

(5) Zephyr und der Rote Milan. Zu viel Wind um die Windkraft in Vogelschutzgebieten? 8. Juni 2010.

(6) Stadtwerke MR-Gutachten erklärt Vogelzug für irrelevant, 5. Dezember 2013.

(7) Leitfaden Berücksichtigung der Naturschutzbelange bei der Planung und Genehmigung von Windkraftanlagen (WKA) in Hessen, 29. November 2012.

(8) Korruptionsvorwurf: Anklage gegen Juwi-Vorstand erhoben, Focus Online, 5. Juli 2013; Stürmische Zeiten für Windkraftplaner Juwi,, Die Rheinpfalz, 5. Juli 2013; Prozess gegen Ex-Minister Köckert beginnt in Meiningen, Thüringer Allgemeine, 25. November 2013; Köckert bleibt Gefängnis erspart – aber er muss arbeiten, ebd., 8. Januar 2014.

 

Bild:

Blick vom Wollenberg über das Lahntal. Quelle: bi-wollenberg.org, CC BY-SA 3.0